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8. Funktionen und Wirkungen des Betens

Gerade weil es so viele unterschiedliche Arten, Formen und Bewertungen des Betens gibt, ist es wichtig, eine Definition des Gebets zu versuchen. Auch nach den (zahlreichen!) Funktionen und Auswirkungen des Gebets ist zu fragen. Dazu gehören auch die Rückwirkungen des Gebets auf das Individuum und auf eine Gemeinschaft. Zu welchem Gott wird gebetet? Die Antwort darauf fällt bei Kindern anders aus als bei Erwachsenen und alten Menschen. Die Berücksichtigung der Kritik am Gebet muss das Beten nicht erschweren oder verhindern, sondern kann es bewusster werden lassen. Dafür gibt es einen Praxisvorschlag.

Zu den Diskussionsbeiträgen

Was ist ein Gebet?

Hier zunächst der Versuch einer kurzen beschreibenden Antwort, danach noch zu einigen religiösen Aspekten etwas ausführlicher:

Gebet gibt es in allen Religionen, zu Gott, Göttern oder zu jenseitig gedachten Personen (z.B. Heiligen, Maria, Jesus); auch ohne Ansprechen eines Gegenübers.

Grundlage des Gebetes ist der Glaube, dass der Mensch mit Gott, das heißt mit einer größeren Wirklichkeit lebt, in der er aufgehoben ist und die ihm helfen kann. Betende glauben, dass Gott sie hört und auf das Gebet reagiert.

Im Gebet überschreitet der Mensch sein Ich und die Grenzen seines Verstehens. Es ist Ausdruck von Freiheit, Offenheit und Verantwortung für mein Tun und Lassen.

Einzelheiten des Lebens werden im Gebet erinnert und in den Zusammenhang des Glaubens gebracht.

Durch Beten gewinnen Gläubige Abstand von sich selbst und vom Druck der Situation. Sie sammeln Kraft und pflegen auf diese Weise langfristig Wünsche und Bedürfnisse, die auch ziemlich häufig zunächst unerfüllbar erscheinen (z.B. Frieden, Gerechtigkeit). Betende finden sich nicht mit der Wirklichkeit ab, sondern glauben, dass sie veränderbar ist.

So dient das Gebet auch der Vorbereitung, Ausrichtung und Reflexion des Handelns.

Gebet ist realistisch, weil der Mensch darin unterscheidet zwischen dem, was er selbst tun kann, und dem, was nicht in seiner Macht steht.

Jesus hat zum Gebet ermutigt („Bittet, so wird euch gegeben“, Matthäus 7,7). Aber daraus lässt sich kein Anspruch auf Erfüllung aller Gebete ableiten. Ohnmacht wird weniger als vernichtend, sondern durch Beten als erträglich erlebt.

An den Gebeten eines einzelnen oder einer Gruppe lässt sich erkennen, wonach das Leben ausgerichtet wird, am Erwerb von persönlichem Besitz, beruflichem Erfolg oder an humanitären Werten.

Gebet kann viele Formen haben, von der kurzen, spontan selbstformulierten Bitte (früher „Stoßgebet“ genannt) bis hin zu längeren und durch Gebrauch bekannten Gebeten, still für sich oder in Familie, Kirche und Gruppen, laut und allein oder zusammen mit anderen.

In feststehenden Formeln können Betende sich mit anderen treffen und sich selbst mit ihren eigenen Anliegen einbringen. Auch Meditation, Gesang und Plakate bei Demonstrationen sind oft Gebete.

Zum (Anlass und) Inhalt des Betens kann fast alles werden: Bitte um kleine und große Dinge, für andere und für alle, Dank, Gedenken, Klage, Bekenntnis, Frage, Antwort, Zugeben von Schuld, Staunen, Lob, Anerkennung (nicht aber Anweisung oder Belehrung).

Als Vorlage für Gebete dienen das Vaterunser, Psalmen und Liederverse, Bücher mit Gebeten für besondere Situationen und Altersstufen, vom einfachen Kindergebet bis zur kunstvollen Dichtung.

Die Fähigkeit zu beten wird am besten zusammen mit anderen (z.B. den Eltern) als Kind gelernt, aber auch später kann es eingeübt und auch von jemandem probiert werden, der sich Gott nicht als Person vorstellt. Feste Zeiten oder Regeln haben sich als hilfreich erwiesen (z.B. am Morgen oder Abend, beim Essen oder zu Beginn einer Reise). Aber ihre Einhaltung ist ebenso wenig wie Händefalten oder Knien ein sicheres Kennzeichen für christliches Beten. Dieses muss sich vielmehr immer wieder neu aus dem ergeben, woraus der Glaube lebt.

Wer den Wert des Gebetes für sich erfahren hat, wird andere dazu einladen oder teilnehmen lassen.

Zu welchem Gott wird gebetet?

Jede Überlegung zum Gebet muss die Gottesvorstellung dahinter klären. Gott wird oft als Ansprechpartner verstanden, der menschliche Züge trägt. Aber Gott ist für den Glauben auch die Macht, die außerhalb und zugleich in dieser Welt als letztbestimmende Instanz existiert. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken, können Gott nicht fassen.

Mit dem Wort Gott wird die Überzeugung bezeichnet, dass eine größere Wirklichkeit weit über unser Denken und Tun hinaus existiert. An sie richten sich unsere Erwartungen, unser Glaube, dass er/sie Möglichkeiten der Hilfe, Ergänzung und Erkenntnis bereithält. Das hat dann praktisch zur Folge, dass man sich auch wirklich auf seinen Glauben einlässt. Diese Funktion des Gebetes ist jedenfalls nicht in erster Linie davon abhängig, ob das Wort Gott in der Anrede gebraucht wird oder nicht.

Gott wird in einem neuzeitlichen Weltbild nicht als eine willkürlich von außen ins Leben eingreifende Kraft angesehen. Deshalb darf ein Gebet nicht magisch missverstanden werden als wortreiches Bemühen des Beters, Gott zu einem gewünschten „Handeln“ zu veranlassen. Ein Gebet setzt also nicht Gott in Bewegung, kann ihn nicht in Bewegung verset­zen, sondern den Beter selbst (so der Theologe und Physiker Stadelmann; vgl. auch den Abschnitt „Gibt es ein Einwirken Gottes auf das Weltgeschehen?“ Seite 16).

Die Sprache des Gebets mit dem Urgrund, der abgründigen Liebe, dem Umgreifenden und wie die Versuche alle lauten mögen, das Unsagbare zu benennen, ist uns noch gar nicht gegeben. Wir kennen nur die Sprache des Gebets in Worten, mit der wir auch untereinander als Personen kommunizieren. Kann eine Bitte wie „Und erlöse uns von dem Bösen“ an einen „Urgrund“ gerichtet werden, ohne ins Bodenlose zu fallen? Manche tun das bereits und erfahren bei diesem Wunsch, dass zu seiner Erfüllung mehr helfen muss – und hilft! – als das im eigenen Lebenskreis da ist). Viele sprechen diese Bitte im Vaterunser aus und hoffen dabei auf den Beistand einer größeren Macht, die ihnen die Kraft gibt selbst dem Bösen zu widerstehen! So kann das Vaterunser auch gebetet werden, wenn man nicht an einen persönlichen Gott analog zur Vaterfigur Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle glaubt, (Das muss nicht im Gegensatz und Widerspruch zur Kommunikation mit Gott als einem persönlichen Wesen stehen).

Wie immer Menschen sich das Göttliche, die größere Wirklichkeit vorstellen, sie sprechen es an als Gegenüber und vertrauen darauf, von diesem verborgenen Gegenüber gehört zu werden v.a. in Gebet und Meditation. Und sie hoffen darauf Antwort zu erfahren – und erleben dies auch.

Unsere Sprache ermöglicht uns die persönliche Kommunikation. Wir erlernen sie als Kinder im Aufnehmen persönlicher Beziehung. Das prägt auch unsere vertrauende Kommunikation mit der Gottheit und legt uns ein Bild von ihr als Person nahe, die sich um jeden einzelnen Menschen kümmert und in das Geschehen eingreift. „Den Kindheitsglauben verlieren“ kann darum einem wirklichen Verlust gleichkommen, weil uns die natürlich erworbene Sprache versagt, sich an ein Gegenüber zu wenden, das wir uns als unpersönlich vorstellen wollen oder müssen. Das Idiom dafür erwerben wir nicht wie die Muttersprache, sondern müssen es wie eine Fremdsprache erlernen, wenn nicht sogar der Vergleich mit dem Erlernen der Sprache der Mathematik angebracht ist. Wo und wie können wir diese Sprachform so gut erwerben, dass wir als Glaubende uns darin glaubwürdig ausdrücken können? („Kinderglaube“ kann aber auch Erkenntnisfortschritte verhindern. Deshalb sollte er behutsam zu einem erwachsenen Verständnis weiterentwickelt werden, in dem er nicht abgeschafft, sondern gleichsam in seinem Kern aufgehoben ist.)

Beten als Ausdruck des Glaubens – meines Glaubens

Das Gebet ist für Gläubige ein Sprechen zu Gott, Gespräch mit Gott. Alles darf gesagt werden. Gott hört.

Ein Gebet kann eine Bitte oder ein Wunsch sein, aber ist das alles? Ein Gebet kann alles sein: Ein Lied, eine Anrede, festgefügte oder freie Worte, sogar das ganze Leben kann ein Gebet sein. Es kommt auf die Haltung, auf die Einstellung zum Leben an. Glaube ich alleiniger Manager meines Lebens zu sein und verstehe ich mich als autonome, selbstgenügsame Entität, dann wird es mir schwer fallen zu beten. Wenn ich mein Leben jedoch als Geschenk verstehe, entsteht ein Gefühl der Dankbarkeit. Ich will dem danken, der es mir geschenkt hat. Ich setze damit Gott voraus, egal wie ich ihn mir vorstelle.

Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, was ein Gebet ist. Das wirkt sich auf die Praxis des Beten aus.

Der einzelne Mensch oder die Gemeinschaft setzt sich in Beziehung zu Gott, dem letzten Grund des Seins. Die Rede zu Gott setzt das „Du“ auf der anderen Seite voraus. Gott wird dabei häufig menschlich gedacht. Er wird als Gesprächspartner verstanden, der auch um entsprechende Reaktionen gebeten werden kann. Dieses eng geführte personale Gebetsverständnis hat jedoch häufig zu Missverständnissen geführt. Für die Leistung eines Gebetes erwarten viele genau die Gegengabe, die man sich wünscht. Ein Gebet ist aber kein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Denn Gott, den wir mit dem Gebet auffordern oder bitten, dass er uns etwas gibt oder sich bei uns etwas ändert, ist ja auch der Geber der Situation, die wir verändern wollen. Auch das, was der Betende unangenehm erlebt und ‘wegbitten’ will, ist nicht ohne Gott zu denken. Wenn wir beten, verlassen wir uns auf Gott. Vielleicht können wir sowohl die Erfüllung der Bitte als auch die Nichterfüllung als Aufgabe im Leben annehmen. Das Gebet hat uns dann dabei gestärkt und die Richtung für unser Denken und Handeln gezeigt.

Im Gebet suchen wir die persönliche Nähe zu Gott beispielsweise in den Worten des Vaterunsers. Hier wird Gott als der Schöpfer, der Vater des Lebens angesprochen. Wir können aber auch zu Jesus beten. In ihm, dem Sohn, zeigt sich die menschliche Seite Gottes. In beiden Fällen ist jedoch die direkte Beziehung zu Gott entscheidend für den Glauben.

Arten und Formen des Gebets

Arten des Gebets

Es gibt beim Gebet die Bitte, den Dank, die Fürbitte und das Lob, die Anbetung, aber auch die Klage.

Die Bitte setzt (mehr oder weniger selbstverständlich) voraus, dass Gott daraufhin etwas tut, in den Geschehensablauf eingreift, etwas ändert. Es wird nach Erklärungen gesucht, wenn das nicht der Fall ist oder zu sein scheint. Wer nicht mit einem Eingreifen Gottes rechnet wird sich eher selbst etwas wünschen als Gott darum zu bitten.

Das Dankgebet bringt zum Ausdruck, dass viele Ereignisse, Lebensinhalte, Menschen und Dinge in ihrem Dasein und Wert Gabe und Geschenk Gottes sind, aus einer größeren Wirklichkeit heraus entstanden und keineswegs vom Betenden selbst gemacht oder geschaffen.

Fürbitte ist ein mitfühlendes Gedenken an andere Menschen mit dem Wunsch, dass ihnen aus dem größeren Zusammenhang des Glaubens heraus Hilfe, Hoffnung und Gutes zukommt und zuteil wird.

Das Gebet wird zur Klage über vermeintlich oder tatsächlich als unzumutbar erfahrenes Leid in der Zuversicht, dass auch im Leiden die Verbindung zur größeren Wirklichkeit, zu Gott nicht abreißen muss (wie es vor allem auch Jesus selbst gezeigt hat.).

Anbetung ist Wahrnehmung und Anerkennung der Größe und Macht Gottes, aber auch seiner Schöpfung und seiner Liebe. Dank für eigenes Wohlergehen und Schicksal, Bitte, eigene Wünsche und Fürbitte treten dabei in den Hintergrund.

Das Gebet hat Rückwirkungen auf die Betenden. So zeigt sich z.B. an den Gebeten einer Gemeinschaft, worauf es ihr ankommt, was ihr wichtig ist.

Zum Beispiel wird beim Tischgebet bewusst, erkannt und anerkannt, dass Essen und Lebensbedingungen von weiter her kommen und durch einen größeren Zusammenhang bedingt sind (vielleicht fällt dann auch manche Kritik am Essen oder am Personal anders aus).

Außerdem wird angedeutet, dass Essen, Aufnehmen und Annehmen auch einen Zweck haben: Kraft zu bekommen für die eigenen Aufgaben und dazu auch einen Beitrag zur Erschließung der größeren Wirklichkeit zu leisten und diese damit selbst zu finden: „Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise”. Das heißt übersetzt: Wie ist eigentlich das zu bewerten, was wir aus den uns zur Verfügung stehenden Lebensmitteln machen? Natürlich haben wir dafür gearbeitet — aber Dankbarkeit und Offenheit für den größeren Zusammenhang lässt noch MEHR erkennen. Das Essen wird durch das Gebet zum Modell; die hier angefangene Offenheit kann auf viele andere Stellen übertragen werden, z. B. wenn man sich nach dem Essen wieder in das Auto setzt, eine Maschine bedient oder einkaufen geht – auch da kommt MEHR auf uns zu als uns im Alltagsbetrieb bewusst wird (aber doch dann, wenn es dafür Anregung und Erinnerung gibt).

Bei Feiern und Festen repräsentiert das Gebet die Offenheit für den größeren Zusammenhang. Man muss dafür nicht unbedingt die gewohnte Form des Gebetes, also die ausdrückliche Anrede Gottes, wählen. Wer bei der Vorbereitung der üblichen Ansprachen daran denkt, welche Aussagen In Gebeten vorkommen und wie sie auch hier entsprechend berücksichtigt werden können, der bietet den Zuhörern möglicherweise mit Hinweisen auf Hintergrund und Zusammenhang des Anlasses Anregung zu tieferer Erkenntnis und Empfindung.

Formen des Gebetes:

Wie die Inhalte so sind auch die Formen des Gebetes vielfältig. Um nur einige zu nennen:

  • Es gibt das Freie Gebet, allein oder mit anderen, nach Vorlagen (aus der Literatur, der Bibel, in der Liturgie), im Lied, in Kunstwerken, in Gesten und Demonstrationen.
  • In der Liturgie des Gottesdienstes hat das Gebet einen festen Platz. Das wird bei positiver Wertschätzung von Gebet und Gottesdienst etwa so gesehen:
  • „Zu Beginn des Gottesdienstes im Eingangsgebet spiegelt sich die Kirchenjahreszeit und ich werde persönlich aus meinem Alltag zu Gott geholt.
  • Der anschließend gebetete Psalm beheimatet mich in der biblischen Gebetstradition mit den festgefügten Worten und Bildern.
  • Das Fürbittengebet, nach der Predigt, verbindet mich mit meinen Nächsten und der ganzen Welt, ich bete mit anderen für Andere.“

Funktionen des Gebets:

Hier ist zu unterscheiden zwischen möglichen Wirkungen von Gebeten auf den Adressaten, auf die Beter selbst oder auf deren Umgebung.

In der Religions- und Kirchengeschichte wurden zwar häufig Ereignissen im politischen, gesellschaftlichen und individuellen Bereich auf die Bitten an Gott zurückgeführt. Die Erwartung konkreter Hilfe Gottes durch Einwirken auf den Geschehensablauf als Reaktion auf Gebete ist aber nicht das Hauptkennzeichen und Motiv des christlichen Gebetes. Sie wird zudem auch durch die zunehmenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verdrängt.

Dagegen lassen sich aber sehr wohl Wirkungen des Gebets auf die Beter selbst und deren Umgebung nennen:

Entlastung

Das Gebet hilft im Alltag. Es entlastet und ist Lebensbewältigung. Das Gebet kann dazu dienen, schwer überschaubare Situationen, Hoffnungen und Befürchtungen auszusprechen. Es wirkt dann entlastend. Ein lautes oder stilles Vortragen verworrener oder schwieriger Gedanken ermöglicht Distanz zu sich selbst und verhindert nutzloses Grübeln. Ordnung der Gedanken wird geschaffen. Im Gebet kommt es zu einem inneren Klärungsprozess, indem neue Handlungsalternativen gesehen werden können. Es eröffnet eine neue Welt.

Im Gebet kann ich auch das eigene Ich zurücktreten lassen. Ich kann mir deutlich machen, dass fast alles, was geschieht, nicht von mir selbst gemacht wird.

Durch Beten bekommt man Distanz zum Alltag und zu seinen Sorgen und Problemen. Es gelingt, innerlich einen Schritt aus diesem Alltag herauszutreten und ihn aus einer Außenperspektive zu betrachten. Damit verliert er die Macht uns zu vereinnahmen.

Handlungshilfe

Das Gebet befähigt zum Handeln. Es wird erzählt, dass zwei Bauern mit vollgeladenen Karren einher kamen. Die Wege waren verschlammt und beide Karren fuhren sich fest. Einer der beiden Bauern war sehr fromm, er fiel sofort im Schlamm auf die Knie nieder und begann, Gott zu bitten, ihm zu helfen. Er betete und betete ohne Unterlass. Der andere schimpfte entsetzlich über das Unglück, versuchte aber, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Er betete leise, Gott möge ihm die Kraft geben, den Karren herauszuziehen. Er suchte sich Zweige und Blätter und Erde zusammen, legte sie unter die Räder und versuchte dann, den Karren herauszuziehen. Da stieg ein Engel aus der Höhe nieder. Zur Überraschung der beiden, ging er zu dem Menschen, der geschimpft und gearbeitet hatte. Darauf wendete der andere verwirrt ein: ,,Entschuldige, das muss ein Irrtum sein! Ich habe dich doch hernieder gebetet, komm mir zu Hilfe!” Aber der Engel sagte: ,,Nein – die Hilfe gilt dem anderen. Gott hilft dem, der betet und arbeitet.” Das Gebet ersetzt das eigene Handeln nicht. Es regt Handeln an – soweit möglich.

So können Gläubige im Gebet ihr Handeln planen, korrigieren und an den Maßstäben und Erfordernissen einer größeren Wirklichkeit orientieren.

Dialog

In der Psychologie wird die Bedeutung des „inneren Dialogs“ insbesondere bei Kindern hervorgehoben. Gebete können den „inneren Dialog“ verstärken und inhaltlich füllen. Die persönliche Wertorientierung und das Selbstbewusstsein wird durch solche Reflexionen entscheidend gefördert.

Aneignung

Das Gebet bietet den Gläubigen die Möglichkeit, die aus der Predigt oder sonstiger Verkündigung aufgenommenen Worte auch selbst zu verwenden und sich damit bis zu einem gewissen Grad anzueignen. Dadurch wurde es zur einer der wichtigsten Übungen des (z. T. allerdings nur mitvollziehenden) Formulierens und Verbalisierens von Glaubensinhalten, die es in früheren Zeiten ohne Bücher, Zeitungen und Massenmedien gab.

Bewusstseinssteigerung

Das Gebet ist somit eine umfangreiche, exemplarische Hervorhebung und Bewusstmachung von Ereignissen, Gedanken und Möglichkeiten. Wenn dabei auch eine Auswahl getroffen werden muss, so gibt es doch grundsätzlich nichts, worum und wozu nicht gebetet werden könnte.

Schließlich vertieft und variiert das Gebet Erfahrungen, Ereignisse und Gedanken. Dadurch werden sie auch für zukünftige Verwendung bereitgestellt.

Besonders deutlich wird das beim Dankgebet. Die Funktion des Dankes ist ja auch bei den zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nur darin zu sehen, dass dadurch gute Beziehungen zur Außenwelt, etwa zu den Gebern der empfangenen Gaben gepflegt werden. Vielmehr erlaubt Dankbarkeit auch eine bewusste und unterscheidende Aufnahme der Ereignisse und Erfahrungen, um sie richtig einzuordnen.

Abstand durch Gebet

Das Gebet ermöglicht dem Menschen auch einen gewissen Abstand zu seiner Situation einzunehmen. Er wird von einem entstandenen Handlungs‑ und Ambivalenzdruck entlastet, indem er einiges davon sozusagen Gott zuschiebt. Das mag in manchen Fällen als eine Flucht vor der Realität in Verantwortungslosigkeit und Untätigkeit (Quietismus) erscheinen. Man sollte aber nicht übersehen, welche Bedeutung Beten — Händefalten! — in früheren Zeiten hatte, in denen die Menschen unter einem ungeheuren Leistungsdruck standen. Der Existenzkampf ging in einer Welt vor sich, die zu arm war, um die menschlichen Bedürfnisse ohne ständige Einschränkungen, Verzichte und Verzögerungen zu erfüllen und die meist leibeigene Bauern nur das Nötigste zum Leben für sich und ihre Familien beschaffen konnten.“

Man kann das Beten mit der Arbeit eines Ballonfahrers vergleichen. Will er an Höhe gewinnen, muss er Ballast abwerfen. Und genau das können wir im Gebet tun: Ballast abwerfen! Alles loslassen: Alle Bilder, alle Gedanken, alles, was uns heute geschehen ist, können wir loslassen, abgeben, zu Gott hin. Dann werden wir frei: Die Gedanken, die Erlebnisse von gestern können unseren Geist nun nicht mehr besetzen, so wie sie das immer getan haben.

Realismus

Wenn ein Mensch betet, dann unterscheidet er damit zunächst einmal zwischen dem, was er selbst tun kann und dem, was nicht in seiner Macht steht. Das ist im Grunde nichts anderes als Realismus und nüchterne Sachlichkeit. Es ist schon viel gewonnen, wenn das Unverfügbare im Gebet wenigstens benannt und abgegrenzt ist.

Im Gebet wird jedenfalls — wie in der Wissenschaft — die Grenze dessen, was völlig unmöglich erscheint, sehr weit hinausge­schoben. Wenn Bitten an Gott gerichtet werden, so beziehen sie sich in der Regel auf etwas, das der Mensch nach vernünftiger Einschätzung der Lage mit den ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln zur Zeit oder auf lange Sicht hin nicht realisieren kann, was er aber auch nicht aufgeben will.

Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung

Wird im Zusammenhang mit wichtigen Entscheidungen gebetet, so kommt dies einer längeren Offenhaltung gleich, was die Einbeziehung weiterer Aspekte ermöglicht. Wenn für Notleidende gebetet wird, so wirkt das als Selbstverpflichtung auf die Betenden zurück. Das Fürbittengebet für Kranke und Gefangene zeigt und verstärkt die durch den Glauben begründete Gemeinschaft. „Das Gebet bereitet den Menschen darauf vor, die Verantwortung für seine Welt zu übernehmen”-

Wenn das Beten helfen würde…

Hoffnung auf Hilfe ist immer noch ein starkes religiöses und psychologisches Motiv des Betens. Das Gebet ist in vielen Notlagen die einzige Möglichkeit, wenigstens etwas zu tun, wenn es auch nicht sofortige Abhilfe zur Folge hat. Hier wird Gott verstanden als einer, der mehr oder weniger direkt in den Ablauf der Geschehnisse eingreift.

Für den christlichen Glauben ist aber, wie oben schon erwähnt, die Hoffnung auf Erfüllung von Wünschen nicht das Hauptmotiv für das Beten. Es gibt andere gleichwertige und überzeugende Funktionen.

So ist das Gebet eine Möglichkeit, Form und Übung, von sich selbst weg zu denken, sich zu öffnen und offenzuhalten für den größeren Zusammenhang und die größere Wirklichkeit. Als Verhaltensweise ist das Gebet weitgehend unabhängig von äußeren Anlässen und Ereignissen und zu jeder Zeit und fast unter allen Umständen praktizierbar. Der Mensch gewinnt darin einen Abstand von sich selbst und von der Situation, in der er sich befindet. Auf dem Umweg über das Gebet sieht der Mensch sich selbst im größeren Zusammenhang. Es hat für ihn die Wirkung eines religiösen archimedischen Punktes. Jederzeit und ohne Begrenzung kann so mit einem unendlichen Gesprächspartner geredet werden, dass jede Bewertung von Ereignissen, jede konkrete Situation und jedes eigene Empfinden in einem anderen Licht erscheint. Dadurch entsteht Freiheit.

Der Betende wendet sich in seinem Bewusstsein und Reden dem zu, was jenseits seiner Grenzen liegt, was seinem Wesen nach nicht erreichbar erscheint.

In der christlichen Gebetspraxis kommt deutlich zum Ausdruck, dass das Gebet vielfach auch Reaktion auf etwas Erfahrenes, Gehörtes oder Gelesenes dar. Es stellt also eine Wechselbeziehung zur Außenwelt her und institutionalisiert sie geradezu.

Rückwirkungen des Gebetes auf eine Gemeinschaft

Zu beachten (und zu beobachten!) ist, dass das Gebet Rückwirkungen auf die Betenden hat. So zeigt sich z.B. an den Gebeten einer Gemeinschaft, worauf es ihr ankommt, was ihr wichtig ist.

So wird eine zu politischen Zielen oder gegen Ungerechtigkeit betende Gruppe nur gewaltfrei agieren können.

Gemeinsam zum gleichen Gott betende Menschen haben normalerweise keine großen Unterschiede in ihrer gegenseitigen Wertschätzung.

Gebetete Fürbitte kann die Bereitschaft zur Hilfe verstärken.

Beten mit Kindern – warum und wie

Mit Vorschlägen für die Praxis in der Anlage

Beim Beten erlebt das Kind, dass es außer den Erwachsenen noch jemanden gibt, der in ihrem Leben wichtig ist. Dem man alles anvertrauen kann – gute und schlechte Erlebnisse. Das kann Kindern im Leben helfen und entlastet sie. Gott ist sogar jemand, zu dem man reden kann, wenn einen kein Erwachsener versteht. Durch Beten erleben Kinder die Gewissheit, nie alleine zu sein: Gott ist da, zu ihm kann ich beten, mit ihm kann ich reden, ihn kann ich mit ins Leben hinein nehmen.

Erwachsene, die mit ihren Kindern beten, vermitteln ihnen eine Geborgenheit, die das ganze Leben tragen kann. Gleichzeitig erziehen sie ihre Kinder aber auch zur Selbstständigkeit, denn das Gebet kann zu einem Ort werden, an dem sich das Kind eigenständig und unabhängig von den Erwachsenen fühlt.

Kritik am Gebet

Folgende Argumente werden in der Kritik am Gebet häufig genannt:

Durch das Gebet kann eine Flucht vor der Realität versucht werden. Man findet sich allzu leicht damit ab, dass die Welt nicht verändert werden kann. Das Gebet wird dann zur Ersatzhandlung.

Das Gebet ist eine Minderung des Kräftepotentials, das für die Bewältigung anstehender Aufgaben verfügbar ist. Selbst ein möglicher psychologischer Erfolg entspricht nicht dem dafür notwendigen Aufwand.

Durch das Vertrauen auf die Hilfe Gottes wird möglicherweise die Entwicklung von Wissen und Erkenntnis behindert, bis hin zum Beharren auf abergläubischen Vorurteilen (z. B. dass Gott direkt in den Ablauf des Naturgeschehens eingreifen könne bzw. wolle).

Durch vorformulierte Gebete wird eine vorgeformte Wertordnung übernommen und damit die geltende Herrschaftsstruktur anerkannt und verfestigt. Extreme Beispiele: Fürbitte für Diktatoren und Bitte um Kriegsgewinn.

Durch die im Gebet vorausgesetzte Haltung der Demut und Unterordnung wird der Mensch in seiner individuellen und sozialen Entfaltung gehindert.

Durch die Fixierung auf das Gebet werden keine anderen, zeitgemäßen Ausdrucks‑ und Verhaltensformen entwickelt, welche ähnliche Funktionen wie das Gebet haben könnten.

Diese Kritik ist für Christen ein willkommener Anlass, Theorie und Praxis des Gebetes immer wieder kritisch zu überprüfen. Das Gebet hat zu sehr den Charakter des Sakralen, Intimen und deshalb Nicht‑kritisierbaren bekommen. Aber ebenso wenig wie der Glaube nicht nur Sache eines einzelnen Menschen sein kann, so auch nicht das Gebet. Worum gerade gebetet wird und werden kann, muss zur Diskussion gestellt werden oder sich aus der umfassenden (und deshalb notwendig auch gemeinsamen) Orientierung des Glaubens ergeben.

Andererseits kann darauf hingewiesen werden, dass die kritisierten Folgen einer bestimmten Gebetspraxis auch bei anderen, vergleichbaren Verhaltensformen auftreten können. Der Besuch eines Filmes kann Flucht vor der Realität und Ersatzhandlung sein, ebenso die Lektüre einer Zeitung oder das unverbindliche Gespräch in einer Gesellschaft.

Die Zukunft des Gebetes

Die Zukunft des Gebetes ist offen: Hat das Gebet unter diesen Aspekten eine unaufgebbare Bedeutung für den Glauben und eine Chance für die Zukunft? Die Zukunft des Gebetes ist—wie das Gebet selbst – offen

Vielleicht werden sich auch die Funktionen des Gebetes zum Teil auf andere Formen und Möglichkeiten verteilen. So erlauben z. B. Telefon und Verkehrsmittel oder auch soziale Netze heute die Wahl eines realen und passenden Gesprächspartners, wo der Mensch früher auf sich selbst zurückgeworfen war (die Qualität der Offenheit kann ebenso in einem Gebet wie in einem Gespräch mit einem anderen Menschen bestimmend sein; der Glaube rechnet ja damit, dass Gott uns im Menschen begegnet).

Tatsächlich ist festzustellen, dass es heute Menschen gibt, die den christlichen Glauben bejahen ohne ausdrücklich zu beten. Und Menschen, die beten und dem Christentum skeptisch gegenüberstehen.

Gebetet wird heute außer individuell und in Gruppen auch öffentlich, bei Einweihungen, Gedenkfeiern u.Ä., meist aber in der Kirche und bei kirchlichen Feiern. Auch in Zukunft?

Praktischer Vorschlag:

In einer Gruppe aus den folgenden Karten, von denen jede/r ein Päckchen bekommt, jeweils eine für Zustimmung oder Ablehnung auswählen und darüber diskutieren:

1. Gebet ist Ausdruck für den Glauben, dass über mich selbst und andere Menschen hinaus eine größere Wirklichkeit da ist, in der ich aufgehoben bin. 7. Beten verhilft zu einer intensiven Erlebnis- und Bewusstseins­steigerung. Die zurückliegenden Ereignisse werden darin noch einmal vergegenwärtigt, in ihrem Wert erkannt und fester in der Erinnerung verankert.
2. Gebet ist vergleichbar mit der Erfahrung, dass, so wie das überall vorhandene und wirksame Magnetfeld der Erde die Nadel eines Kompasses an einem konkreten Ort beeinflusst und ausrichtet, auch eine größere Wirklichkeit existiert, an der Menschen ihr Leben ausrichten können und sollen. 8. Das Gebet hilft, Einzelerfah­rungen und -probleme in den Zusammenhang des Glaubens zu bringen. Auf diese Weise dient es auch der Einheit der Persönlichkeit.
3. Wer betet, denkt von sich weg und über das hinaus, was ihm bekannt ist und möglich erscheint. 9. Vorformulierte Gebete sind ein Rahmen, der zum Eintragen eigener Erfahrungen und Gefühle anregt.
4. Beten ist Ausdruck von Realitätssinn, weil es hilft zu unterscheiden zwischen dem, was ein Mensch selbst tun kann und dem, was nicht in seiner Macht steht. 10. Gemeinsames Gebet ist Anlass und Ausdruck der Willensbildung einer Gruppe. Es zeigt, woran einer Gemeinschaft liegt, wofür sie sich einsetzt.
5. Wer betet findet sich nicht mit der Welt so ab, wie sie ist, sondern versteht sie als veränderbar. 12. Das Gebet hilft, Abstand von sich selbst und vom Druck einer Situation zu gewinnen.
11. Das Gebet kann Wünsche und Wertungen korrigieren, weil sich durch die Beziehung auf Gott und den Zusammenhang des Glaubens der subjektive Stellenwert der Wünsche verändert. Gegenüber Gott kann nach dem christlichen Glauben nicht egoistisch gebetet werden. 13. Das Dankgebet hält offen für die Tatsache, dass der überwie­gende Teil meines Lebens von außen kommt und nicht aus meiner eigenen Leistung. Es ist lebens­wichtig, sich darauf immer wieder einzustellen. Die Qualität des Lebens liegt darin, dass es nicht selbstverständlich ist.
14. Eine Gefahr des Gebetes kann darin liegen, dass es Flucht vor der Wirklichkeit sein kann und die eigenen Anstrengungen vermindert. 15. Formulierungen von vielen Gebeten orientieren sich an überholten Weltordnun­gen (z.B. Obrigkeitsdenken, Glauben an Wunder).
16. Man kann auch ohne Gebet ein guter Christ sein. 17. Die Möglichkeit zu beten ist nicht abhängig von der Anrede bzw. Annahme einer persönlichen Gottes.

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