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Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung

Anlage zu Kernfrage 7: „Gott in der Mystik erfahren?“

Verwunderung und Staunen

„Der erste Schritt auf dem mystischen Weg ist das Staunen […] Die Seele braucht das Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich machen, um uns lagern.“

Mystiker versuchen, jeden Augenblick mit allen Sinnen zu schmecken, um das Gewahrsein im Jetzt verankern zu können.“ Das „führt irgendwann zur »sapientia«, der Weisheit des Erkennens, dass die ganze Schöpfung nach Gott schmeckt, wie Meister Eckart sagte.“ Auch die Lektüre mystischer Zeugnisse kann eine erste »Sensibilisierung für das mystische Erleben« erzeugen und empfindungsfähig für den »Göttlichen Bereich« machen.

Viele Menschen finden den Zugang durch weitere »irrationale Einfallstore«, die ihnen das Herz öffnen: Musik, Tanz, Poesie, Kunst, Natur, liebevolle oder schmerzliche Begegnungen. Sie alle können das Geheimnis der Wirklichkeit mitten in der Welt spürbar machen.

„Oft ist es die Schöpfung, das Wilde, Erhabene und Schöne in der Natur, das einen vorbereitet auf die Begegnung mit Gott.177 Nichts anderes empfahl Jesus in der Bergpredigt, als er auf die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Felde hinwies – sie leben im reinen Jetzt. Viele christliche Mystiker sind ihm gefolgt und haben Naturphänomene meditiert, um diese irdische Wirklichkeit radikal neu zu erfahren. Bernhard von Clairvaux sprach sogar einmal davon, er habe gar keine anderen geistlichen Lehrer gehabt als die Buchen und die Eichen.“ Das wird als „nonduales Einswerden mit Phänomenen der sichtbaren Welt“ bezeichnet und verstanden.

„Innere Bilder und subtile Phänomene erfahren“.

„Hat man die wache Durchdringung der äußeren, sinnlichen Dingwelt eingeübt, so kann man sie als ein Senklot nutzen hinunter zur Wahrnehmung der inneren subtilen Wirklichkeit. Das Reich der Seele, zu dem man hier vordringt, entspricht den bekannten bilderreichen Zuständen, in die man beim Träumen eintaucht. Nacht für Nacht machen wir dabei Erfahrungen mit einem inneren feinstofflichen Körper und einer Welt, die nicht an physikalische Gesetzmäßigkeiten gebunden ist. In die Traumgeschehnisse kann man normalerweise nicht eingreifen, die Bilder laufen einfach ab. Häufig kann man sich nicht einmal an die eigenen Träume erinnern.

Wer den zweiten Versenkungsgrad erreicht, ist dagegen in der Lage, sich bei völlig wachem Bewusstsein frei in diesem subtilen Reich zu bewegen. Er hat das Gefühl, »erwacht« zu sein. Er weiß nun, dass er nicht nur ein »natürlicher Mensch« ist, sondern auch ein »geistlicher Mensch«. So sagt es Paulus (1. Korintherbrief 2,1-5).

„Man begegnet einer Fülle von inneren und teilweise ungewöhnlichen Bildern. Es gibt Visionen, bedeutungsvolle Träume, direkte Eingebungen, Auditionen, Ekstasen und Verzückungen. Da ist ein inneres Licht, man sieht Gestalten, Dinge und Landschaften, begegnet seltsamen Wesen und wird von starken Emotionen ergriffen. Eine Vielzahl solcher subtilen Erlebnisse wird in der Bibel unter dem Begriff »Gesichte« geführt. Dazu gehören große Träume, prophetische Visionen und endzeitliche Offenbarungen. Darin wird Gott geschaut oder als der »Absender« erkannt (4. Mose/Numeri 12, 6), der das Volk oder Einzelne zur Umkehr auffordert oder ihnen eine neue Einsicht schenkt.“

Ins Herz der Bilder eindringen

Wer sich dem subtilen Traumbewusstsein nähern und eindringen möchte in das »Herz der Bilder«, sollte sich in Begleitung eines Psychologen, Therapeuten oder Seelsorgers mit seinen Traumbildern auseinandersetzen oder meditativ-imaginative Methoden wählen.

Ein neuer, aber schon solide erforschter Weg, der sich vorzüglich für diese zweite Zustandsebene eignet, ist die Wertimagination. Als wertorientierte Methode fördert sie vor allem die persönliche Begegnung mit den inneren sinnstiftenden Geisteskräften des Guten, Wahren und Schönen, an denen es heute so sehr mangelt.

Nach einer Eingangsphase in die subtile Versenkung mit geschlossenen Augen beginnen etwa 30 Minuten lange imaginative Wanderungen durch die Landschaften der eigenen Seele – ganz individuell wie beim Träumen. Allerdings ist man die ganze Zeit bewusst und kann aktiv den Verlauf der Wanderung mitbestimmen. Hier trifft man auf die Werte in der eigenen Seele in Form von Gestalten. Mut beispielsweise erscheint in Form der »Mutigen«, jeweils als Mann und Frau. Diese Wertgestalten sind die unterstützenden Aspekte des unbewussten Geistes, und in den Imaginationen vertraut man sich ihrer Führung an. Sie fördern die Selbstwahrnehmung und Sinnfindung, aber auch die Begegnung mit inneren Gottesbildern.“

Formlose Zustände erfahren – die bilderlose Schau

Ein Zeichen fortgeschrittener Versenkung ist das bilderlose Sehen: »In dieser Tiefe gibt es keine Gedanken, keine Bilder, keine Überlegungen und kein Machen. Alles geht nur durch das Schauen und das Sein.«

„Gerade die reiferen Mystiker bemühen sich nur noch ums Loslassen und Leerwerden von allen Gedanken, Vorstellungen und Bildern. Nichts soll mehr zwischen ihnen und Gott stehen. Im Johannesevangelium heißt es ganz schlicht und tief: »Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen« (Johannes 3, 30). Hier im dritten Versenkungsgrad geht das Erwachen weiter: Jetzt lernt man das Zustandsaggregat des traumlosen, bilderlosen Tiefschlafs vollständig wach zu erfahren. Im »wachenden« Tiefschlaf verlässt man endgültig die Welt der Formen und Bilder, die man am Tag und subtil auch noch in den Träumen wahrnimmt. Nun geschieht das »Erwachen des Bewusstseins aus dem Traum der Form«.“

Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren

Gelassenheit, Nichtsheit, Entwendung sind andere christliche Mystikerworte für das vollständige Ruhen, ja »Vergessen« aller Kräfte, Bilder und Vorstellungen. Der Dominikaner Johannes Tauber (1310-1361) sagt es mit einfachen Worten:

Da ist es so stille, so heimlich und einsam. Da ist nichts als lauter Gott. Da hinein kam nie Fremdes, nie Kreatur, nie Bild noch Weise. Diese Einöde, das ist seine stille, einsame Gottheit.

Meister Eckart bestand darauf, dass nur durch das Eingehen in den »Grund, der grundlos ist« der Weg zur Seligkeit führt:

Du sollst Gott bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis [… ] Du sollst ihn lieben, wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild [… ] Denn von nichts anderem wird die Seele vollkommen selig, als dass sie sich in die Wüste der Gottheit stürzt. Wo weder Wort noch Bild ist – damit sie sich dort verliert und versenkt und sich selbst so zunichte wird […]Gott wird geboren in dem »Nichts«.

Laut Meister Eckart ist es nun die »Gottheit«, Gottes Sein an sich, das im dritten Zustand erfasst wird. Sie löst die bisherigen Vorstellungen von »Gott« ab. Statt der jeweiligen Gottesbilder begegnet man dem »nackten Gott«, dem »namenlosen Wesen, dem ersten Ursprung, der Gott allein ist«. Für Tauber war es schon vor 700 Jahren klar, dass diese Zustandserfahrung selbstverständlich auch Nicht-Christen (»Heiden«) machen. Er fand es außerdem skandalös, dass die allermeisten Christen trotz der klaren Lehren ihrer eigenen kontemplativen Meister »wie blinde Hühner« herumrannten und keine Ahnung hatten, dass sie über die Versenkung in ihrem eigenen Inneren Gott begegnen konnten.“

Nonduales Sein – Das Ich verschwindet

„Der Jesuit und Mystikspezialist Josef Sudbrack, lehnt ab, die personale Beziehungsmystik auf Gott hin von der nondualen Einheitsmystik zu trennen. Man kann offensichtlich beides erfahren, und in christlichen Mystikerzeugnissen finden sich laut Sudbrack genügend »fließende Übergänge«. »Wenn die Ekstase auf Gott hin dem Menschen zur >Einheits<-Erfahrung wird, beginnt dieser zu ahnen, dass Gott nicht nur das DU ist, dem er in Liebe begegnet, sondern auch der grundlose Grund, der die Einheitserfahrung trägt. Ein eindimensionales Sprechen von Gott und damit von Gotteserfahrung – nur gegenüberstehendes >Du< oder nur >Meer der Seinseinheit< – wird der göttlichen Wirklichkeit nicht gerecht.«

Der Weg des Zen-Buddhisten wie der Weg des kontemplativen Christen führt zum Verschwinden der Dualität. Natürlich gibt es immer wieder Verwirrung, wenn es heißt, das Ich verschwindet. Und für westliche Ohren klingt es bisweilen noch lästerlicher, wenn man sagt, Gott verschwindet. Aber es ist das Gleiche, worauf Meister Eckart zielte, als er sagte: »Darum bitte ich Gott, dass er mich quitt mache von Gott.« Das »Ich« des Wachzustandes bleibt zwar vollkommen zugänglich, aber man weiß, dass es eben nicht mehr ausschließlich dieses Ich ist, was das eigene tiefste Wesen ausmacht. Genauso ist es mit den Gottesvorstellungen.

In den tieferen Versenkungsgraden sollen sämtliche Vorstellungen von »Ich« oder von »Gott« samt den damit verbundenen Wahrnehmungs-Beschränkungen verschwinden dürfen. Am Ende des Weges ist nur noch ein Subjekt übrig. Es gibt keine Zweiheit von Ich und Gegenüber-Ich mehr, es gibt keine Gegensätze mehr, alle sind zusammengefallen in ihre ursprüngliche ungetrennte, ungeschaffene Einheit. Es gibt in diesem Bewusstseinszustand auch keinen Graben zwischen Himmel und Erde, kein Getrenntsein von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem mehr.“

Gottes Auge ist mein Auge

Hier gehen einem die Augen auf: Der Blick Gottes auf die Welt und der eigene Blick sind eins geworden. In den Worten von Ken Wilder:

Ich bin das Auge des Geistes. Ich sehe die Welt, wie Gott sie sieht. Ich sehe die Welt, wie die Gottheit sie sieht. Ich sehe die Welt, wie der Geist sie sieht [… ] Der ganze Kosmos entsteht im Auge des Geistes […] in meinem eigenen inneren Gewahren.197

Das entspricht tiefer christlicher Mystik, wie man bei Meister Eckart nachlesen kann:

Das Auge, mit dem ich Gott schaue, es ist dasselbe, darin mich Gott sieht. Mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.“

Einssein in Christus

Auch bei Jesus sehen die Verfasser von Gott 9.0 diese Erfahrung. „Er war der erste große nonduale Lehrer des Westens, der diese Wahrheit verkündet hatte mit den Worten: »Ich und der Vater sind eins.« Jesu Zeitgenossen bezichtigten ihn der Gotteslästerung, weil er »ein Mensch sei und sich selbst zu Gott mache« (Johannes 10, 33). Da erinnerte Jesus seine Kritiker an das Psalmwort ihrer eigenen jüdischen Tradition: »Ich habe gesagt: Ihr seid Götter« (Psalm 82,6). Jesus hatte seinen Jüngern versprochen, dass auch sie »den Geist der Wahrheit« empfangen und schließlich erkennen würden, »dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch« (Johannes 14,20). In diesem Versprechen ist die Lehre der nondualen Einheit vollständig enthalten. In der christlichen Mystik wird sie Vergottung genannt. Martin Luther wies darauf in einer Predigt aus dem Jahr 1526 hin:

Also siehst du, wie Gott sich selbst und Christus, seinen lieben Sohn, ausschüttet über uns und sich in uns eingießt, wie er uns in sich hineinzieht, sodass er ganz und gar vermenscht wird und wir ganz und gar vergottet werden.

Traurig, dass die meisten Christen bis heute davon keine Ahnung haben, obwohl sich die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas größte Mühe geben, darauf hinzuweisen: In der Verklärungsgeschichte versuchen sie aus der Sicht der Jünger zu beschreiben, wie Jesus versunken war in diesen Zustand der nichtdualen Erleuchtung. Sein Angesicht sah ganz anders aus, es leuchtete wie die Sonne, seine Kleider wurden weiß und glänzend wie das Licht. Dieses Ereignis höchster Luminosität markiert Jesu Ruhen im absoluten Geist allgegenwärtigen nondualen Gewahrseins. Es zeigt Jesu ursprüngliches Gesicht, das Gesicht Gottes, das unser aller Gesicht ist:

Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit durch den Geist des Herrn (2. Korintherbrief 3,8).

Es ist das Gesicht des »Menschensohns«, das befreit ist von allen Qualen der Trennung zwischen dem eigenen Selbst und der absoluten Wirklichkeit Gottes. Für Christen ist es das Gesicht des Christusbewusstseins, das immer schon war, immer ist und immer sein wird. »Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen« (Römerbrief 5, 2). Wer dieses Gesicht des »Menschensohns« als das seine erkennt, entdeckt auch, dass er niemals von Gott getrennt war und niemals getrennt sein kann – weil es im nondualen Bewusstsein keine Trennung gibt.

Im vierten Versenkungsgrad wird man vom Christ zum Christus. Wie Jesus wird man in seinen eigenen ursprünglichen, ewig leuchtenden Zustand des göttlichen All-Einsseins mit allem verherrlicht. Das Einssein in der Christuswirklichkeit wird wahrgenommen im tiefsten Inneren und umspannt gleichzeitig die gesamte Wirklichkeit, den gesamten Kosmos. Ein Zustand unendlicher und unermesslicher Freiheit in zeitlos leuchtender Gegenwart. In ihm erkennt man, dass man nicht »da drinnen« ist und die Welt »da draußen« betrachtet. Statt dieser alten Dualität ist nur noch Gott da, in reiner Gegenwart und strahlender Unmittelbarkeit.

Man begreift sogar, dass man in diesen Zustand nicht eingetreten ist, sondern immerzu schon darin war und ist und niemals aus ihm herausfallen kann. Es ist so, als hätte man die Tür entdeckt in einer nicht vorhandenen Wand, wie die Sufis sagen. Oder die torlose Schranke, wie es im Buddhismus heißt. Man sehnt sich nicht mehr nach Gott, ganz einfach, weil man in Gott ist. Es ist das Ende, ja der »Tod« der großen Suche.“

„Wohin nach der nondualen Erfahrung?“

Wer in der nondualen Schau das Wesen Gottes und die Einheit allen Seins erfasst hat, der würde sein wahres, innerstes Menschsein verfehlen, wenn er nun nur »bei sich« bliebe. Das Neue Testament berichtet, wie Jesus mit seinen Jüngern auf dem Berg der Verklärung war. Als Petrus, Johannes und Jakobus ihm vorschlugen, dort oben Hütten zu bauen und sich für immer dort niederzulassen, wollte Jesus keineswegs bleiben. Er stieg den Berg hinab und stellte sich dort unten sofort dem Leid der Welt: Seine erste Aktivität nach seiner Verklärung war, einen kleinen Jungen zu heilen, der an Epilepsie litt – ein symbolisches Bild für das dualistische Hin-und-her-Gerissensein, unter dem Menschen leiden (Lukas 9,2-3).

Dieser Dienst der Barmherzigkeit ist für Meister Eckart das wahre Erkennungszeichen des absoluten Seins. Unendliche Barmherzigkeit ist die »allem vorauslaufende erste Wirkung« Gottes, das Versöhnungszeichen zwischen der nondualen Wirklichkeit selbst und den dualistischen Leidensformen dieser Welt. Jesus hat diese heilsame Barmherzigkeit so gelebt, dass er selbst zum Heiland, Versöhner und Diener seiner Mitmenschen wurde. Der freie, liebevolle Dienst am Mitmenschen drückt die Rückkehr des Erwachten vom »Berg der Verklärung« aus. Er ist aber gleichzeitig auch ein Mittel für jeden, um den Berg zu erklimmen und zum Erwachen zu gelangen. Meister Eckart, der die nonduale Erfahrung gemacht hatte, schrieb allen Christen diesen heilsamen Satz ins Stammbuch:

Wäre einer in solcher Verzückung wie einst Sankt Paulus und wüsste einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte: Ich achtete es weit besser, er ließe ab von Liebe und Verzückung und diente Gott in einer größeren Minne!“