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7. Gott in der Mystik erfahren?

Mystische Glaubensformen finden zunehmendes Interesse. Bieten sie andere, tiefergehende Erfahrungen an als die traditionelle kirchliche Frömmigkeit? Lässt sich durch besondere Arten von Meditation ein Einswerden mit Gott erreichen? Wie verändert sich das Gottesbild durch mystische Glaubenspraxis? Gelingt es, „das Unsagbare zu sagen“?

Mystik vertritt das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes. Gott kommt nahe: Im Alltäglichen gibt es ein Leben in der Gegenwart Gottes. Er ist ebenso radikal immanent wie transzendent. Gott „in uns“ und „über uns“ gehören zueinander.

Aber auch kritische Fragen sind zu stellen: Ist die Überschreitung eines personalen Gottesbilds möglich, ohne Christus als „Angesicht“ des unsichtbaren Gottes aufzugeben?

Zahlreiche Methoden der Kontemplation bieten auch den Interessierten Zugang zu mystischer Erfahrung, die sich nicht gerade besonders begabt dafür fühlen (z.B. bei Küstenmacher in Gott 9.0.)

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Einzelthemen auf dieser Seite

Die neue Faszination

Themen der Mystik sind populär geworden. Fast sieht es nach einer vor kurzem kaum vorstellbaren Mystik-Mode aus. Wohl hatte der katholische Theologe Karl Rahner (1904-1984) schon vor 1970 vermutet: „Der Fromme von morgen wird ‚ein Mystiker’ sein“ (Gesammelte Schriften 7,22). Aber das klang damals, nicht nur für protestantische Ohren, fast verwegen. Die evangelische Theologie vor allem des deutschen Sprachraums blieb sich lange „weitgehend einig, dass Protestantismus und Mystik unvereinbar seien“ (Volker Leppin 2007,118). Pioniere des mystischen Weges galten als Außenseiter. Heute scheinen die konfessionellen Vorbehalte, außerhalb der universitären Theologie, so gut wie verschwunden. Wer sich in Buchhandlungen umschaut, trifft auf gut gefüllte Religions- und Esoterik- Abteilungen, mit einer Fülle von Mystik-Titeln. Digitale Portale öffnen unabseh­bare religiöse Weiten.

Woher diese enorme Anziehungskraft rührt, verdient eine gründliche Untersuchung. Hier seien nur einige Andeutungen gewagt. Längst sind Europäern im Zug der wirtschaftlichen Globalisierung auch andere religiöse Welten nahe gekommen. Touristen nehmen Tänze moslemischer Derwische wahr; in Thailand treffen sie auf buddhistische Tempel, in Indien auf die komplexe religiöse Welt der Hindus. Jüdische und moslemische Gemeinden gehören zur Nachbarschaft im eigenen Land. Dabei stellt sich heraus, dass „Mystik“ keineswegs bloß ein christliches Phänomen ist. Das Themenheft „Mystik“ in „evangelische aspekte“ hat sich schon 2006 weiten Horizonten geöffnet. Die großartige Ausstellung in Zürich „MYSTIK- Die Sehnsucht nach dem Absoluten“ rückte 2011/2012 mystische Welten im Christentum, Judentum und Islam, aber auch in Hinduismus, Buddhismus und Daoismus gleichermaßen ins Blickfeld.

Aber nicht nur die Nahbegegnung religiöser Kulturen trägt zu dem neuen Mystik-Interesse bei. Wichtig ist auch der offensichtliche Schwund profilierter christlicher Inhalte und biblisch fundierter Lehre. Mystik verspricht eine Weite, die von traditioneller Dogmatik frei ist. Gerade diese Unbestimmtheit erweckt Zutrauen bei vielen, denen fixierte Glaubensbekenntnisse fragwürdig geworden sind. Ja, Mystik erscheint als anschlussfähig für eine postreligiöse Kultur und manche Formen des Atheismus. Denn hier scheint eine Verwurzelung, eine Beheimatung angeboten, die keine Kirchenbindung und keine konfessionelle Festlegung abverlangt.

Für Christen hat die Attraktivität der Mystik mit der Chance eines neuen Gottesbilds zu tun. Die „Sehnsucht nach dem Absoluten“, so scheint Mystik zu versprechen, muss nicht in die Gefangenschaft begrenzter oder metaphysischer Gottesvor­stellungen hineinführen. Aber wer ist „der Gott der Mystik“? Dieser Leitfrage folgt die hier vorgelegte Skizze. Sie geht von den Erscheinungsformen christlicher Mystik aus. Die knappe Übersicht „Christliche Mystik“ von Volker Leppin (2007), aber auch Dorothee Sölles Buch „Mystik und Widerstand“ (1997) haben dazu angeregt; auch das Werk „Gott 9.0“ von Marion und Werner Küstenmacher (2010, 3. Auflage 2011) soll mit bedacht werden.

Einige Grundzüge mystischer Spiritualität im Christentum

In der christlichen Tradition tritt das Substantiv „Mystik“ erst als „Kunstwort“ im Frankreich des 17.Jahrhunderts in Erscheinung (Leppin 7). Gewiss sind das Verbum „Myein“ (schließen) und das Adjektiv „Mystikos“ schon in der griechischen Antike geläufig. Damit sind erste Anhaltspunkte geboten. Mystisch leben bedeute: die Augen schließen vor einem Gewirr der Sinneseindrücke, sich sammeln, um so dem inneren Lebenszentrum näher zu kommen. Und: Mystik hat es mit den Geheimnissen zu tun, mit dem, was sich dem Augenschein und dem Hörensagen des Alltags entzieht.

Aber was christliche Mystik in den Jahrhunderten des ersten und zweiten Jahrtausends besagte, kann nicht aus dieser Sprachherkunft herausgesponnen werden. Es führt weiter, auf einige der mystischen Lehrerinnen und Lehrer vor der Reformation zu blicken, die sich als maßgebend und stilbildend eingeprägt haben. Volker Leppin verweist im Osten auf das Werk des Unbekannten, der sich als „Dionysius“ vom Areopag vorstellt (Apostelgeschichte 17,34) und doch erst ins 5. Jahrhundert gehört; dann auf die geistlichen Meister von Evagrius Pontikus bis zu Gregorius Palmas (1296-1359). Im Westen Bernhard von Clairvaux, dann die Franziskaner wie Bonaventura, Dominikaner wie Meister Eckhart und Johannes Tauber und Heinrich Sause. Nicht zu vergessen die Frauen seit Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Margarete Porete. Doch der „mystische Strom“ (Otto Karrer) geht weiter durch alle Jahrhunderte der Neuzeit. Auch Edith Stein (1891-1942), Dag Hammarskjöld (1905-1961), Roger Schutz (1915-2005) gehören zu ihnen, wenn „Mystik“ nicht prinzipiell von „Spiritualität“ abgehoben werden soll. Gibt es gemeinsame Züge, die diese geistlichen Gestalten mystischer Provenienz verbindet?

Ihnen allen geht es um die innige Verbundenheit und Gemeinschaft mit dem, der Ziel ihrer Sehnsucht ist: mit der Wirklichkeit Gottes, der Nähe Jesu Christi, der Lebenskraft des Geistes. Aber Verbundenheit sagt noch zu wenig: die Mystiker meinen eine reale Einheit, eine wirkliche Vereinigung mit der Wirklichkeit Gottes. Sie ist kein Ergebnis leidenschaftlicher Suche. Zuerst und zuletzt bedeutet Gott suchen die Entdeckung: von Ihm gefunden sein. Also pures Geschenk, Gnade für die in Widersprüche verstrickte Menschenseele. Die Mystik bezeugt: das Heilsziel der Gottesgemeinschaft wird schon auf dem Weg geschenkt. Psalm 63,9 heißt es von dieser Gemeinschaft: „Meine Seele hängt an dir; deine rechte Hand hält mich.“ Und Christus, auf den wir zu hoffen wagen, kommt unvorstellbar nahe: „Christus lebt in mir“ (Galater 2,20).

Was die Mystiker zur Sprache bringen, erscheint ihnen als unfassbares Geschenk. Aber sie sehen darin kein Privileg. Weder was ihren sozialen Stand angeht, noch ihre persönliche Bildung. Gott auf Wegen der Mystik begegnen, schließt niemanden aus. Immer deutlicher wird in der Geschichte der Christenheit: der mystische Weg ist nicht den Klöstern vorbehalten. Neben der monastischen Mystik wird schon bei der franziskanischen und dominikanischen Bewegung immer stärker die weltliche Christusnachfolge wichtig. Die Reformation, aber auch katholische Erneuerungsbewegungen knüpfen seit dem 16. Jahrhundert daran an. Und vor allem: in der patriarchalischen Gesellschaft kommen ganz unverwechselbar Frauen zu Wort, eine weibliche Mystik mit ihren eigenen Erlebniswelten. Die Mystik rüttelt an den festgefügten hierarchischen und ständischen Ordnungen.

Erfahrungen auf dem Weg führen in das Zentrum der Mystik

Zentral gehört zur Mystik das Thema der Erfahrung. Bernhard von Clairvaux sprach geradezu von der „Lehrmeisterin Erfahrung“, „magistra experientia“ (6. Predigt zum Hohen Lied). Martin Luther rühmt die „sapientia experimentalis“ einer Erfahrungs-Weisheit. (Anmerkung zu Tauber 1516). Die Mystiker wissen sich auf einen unabsehbaren Weg, eine Lebens-Fahrt geschickt. Das biblische Grundbild der Wüsten-Wanderung Israels steht dabei ebenso im Hintergrund wie das Weg-Motiv in den Evangelien, besonders beim Evangelisten Lukas. Bei anderen geistlichen Lehren dominiert das Bild der „Leiter“ oder das der Treppe. Neun „Stufen“ stellt Küstenmacher dar. Johannes Klimakus (7. Jahrhundert) zeigte in seiner „scala paradisi“, der „Leiter zum Paradies“, dreißig Stufen auf. Äußere Erkenntnisse des Glaubens können kein Ziel festlegen. Erfahrung bedeutet: auf weitere individuelle Wege gefasst bleiben, aber auch: das Äußere ins Innere, ins „Herz“ hineinwirken lassen. Ekstase und Unmittelbarkeit gehören zu diesem Weg.

Innen die Mitte finden

Erfahrungen der Mystik führen nach innen. Sie lassen einen weiten Innenbereich entdecken, eine Seelenwelt. Es geht darum, die Mitte zu finden, den „Grund“ der Seele, „das Herz“, das „Gemüt“. Ohne die innerliche Resonanz führen alle Außen- Erfahrungen nicht vorwärts. Es bedarf der inneren „Vertiefung“ oder „Versenkung“. Das bedeutet keine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und den andern Menschen. In authentischer Mystik lässt sich Kontemplation nicht von Arbeit und Ethos trennen. Aber Innerlichkeit gehört zur Erfahrung des Weges. Darum hat auch das Gebet eine zentrale Bedeutung: nicht nur als Bitte, Lob oder Klage. Sondern auch als „Herzensgebet“, das der Gegenwart Gottes im Herzen inne wird und bleibt. Luther hat das Jesus-Wort Lukas 17,20 übersetzt: „das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Darauf haben sich mystische Autoren evangelischer Herkunft immer wieder berufen.

Damit wird keineswegs das vorfindliche Ego mit seinen triebhaften und süchtigen Seiten sanktioniert. Eines der zentralen Worte heißt Wandlung. Die Mystik ist angetrieben von dem Verlangen, das oberflächliche Ich überwinden zu lassen. Es gilt, das Herz zu reinigen, die Augen der Seele zu läutern, um empfänglich zu werden für die schöpferische Einwirkung und Anrede von oben. Ohne schmerzliche Selbsterkenntnis, ohne Konfrontation mit den eigenen Schatten und Süchten, bleibt alle vermeintliche Erhebung zu Gott nichts als Illusion. Der Prozess solcher Wandlung kommt dabei niemals zum Abschluss. Wann immer die Seligkeit der Gottesgemeinschaft erfahren wird, – die Schau des „Taborlichtes“ – , Mystikerinnen und Mystiker wissen dann um den befristeten und vorläufigen Charakter. Es gilt, immer neu vom Berg der Verklärung herabzusteigen und den Aufgaben am Fuße des Bergs standzuhalten (Matthäus 17).

Unsagbares sagen

Schließlich treffen wir in den mystischen Texten auf eine gewagte Sprache. Sie versuchen Zeugnis zu geben von dem, was eigentlich die übliche Verständigung übersteigt. Sie sprechen vom Unsagbaren. Darum gehen sie ständig über die konventionelle Kirchensprache hinaus. Sie verirren sich dabei in Paradoxien: ein „stilles Geschrei“, „ein namenloses Nichts“. Meister Eckhart meint: „Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht, da roch ich ohne Bewegen, da schmeckte ich das, was nicht war, da spürte ich das, was nicht bestand“. Eine ekstatische, entrückte, zuweilen wie stammelnde Rede. Das zeigt sich auch in der Präsenz einer gewagten „Liebessprache“, die sich vor allem am Hohen Lied Salomos entzündet. Diese Sammlung irdischer Liebeslieder lesen Mystiker, seit Origenes (gestorben 254), auch als Zwiegespräch Gottes mit seinem Volk, ja der einzelnen Seele. Bernhard von Clairvaux hat darüber 86 Predigten gehalten und kam dabei nur bis zum Beginn des dritten Kapitels des Hohen Lieds. Mechthild von Magdeburg (1210-1282) und Johannes vom Kreuz (1542-1591) bezeugen eine Vitalität solcher Liebespoesie. Sie findet immer neue Sprachgestaltungen bis zur Gegenwart.

Wandlungen im Gottesbild

Was kann Mystik bedeuten für eine Erneuerung des Gottesbildes? Das ist eine riskante Frage. Gehört es doch zu den Grundgeboten Israels: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen“ (2. Mose 20,4). Die Rede von „Gottesbildern“ scheint so durch die zehn Gebote von vorneherein in Frage gestellt. Der Gott, der Morse am Dornbusch anredet, entzieht sich mit seinem „Ich werde sein, der ich sein werde“ aller bildhaften Fixierung (2. Mose 3,14). So geht durch das alte Testament selber, in der Tora wie bei den Propheten, ein „Bildersturm“, der die menschlichen Wunschbilder als „Götzen“ entlarvt und kritisiert. Die frühe Christenheit folgt dieser bildkritischen Spur. Sie lässt sich eher als „atheistisch“ schmähen als dem religiösen Kaiserkult zu folgen. Auch die Aufnahme der kritischen Philosophie der Griechen dient der Überwindung anthropomorpher Gottesbilder. Das Bekenntnis zum Einen Gott in „drei Personen“ übersteigt zudem einen allzu gegenständlichen Personbegriff.

Auf der andern Seite spricht die Bibel in einer Vielzahl von Bildern von Gott. Gerade die Propheten bringen den unverfügbar heiligen Gott in Gleichnissen zur Sprache. Jesus lehrt in seinem Grundgebet, den Gott des Himmels als unsern „Vater“ anzusprechen. Im apostolischen Glaubensbekenntnis werden wir ermutigt, den „Schöpfer des Himmels und der Erde“ als „Gott den Vater“ zu verehren. Die orthodoxe Kirche hat nach langen Kämpfen, auch im Gegenüber zum Islam, 787 das Recht der Ikonenverehrung ausdrücklich verteidigt.

So finden wir in der Geschichte der Christenheit ein komplexes Miteinander von Bilderkritik und Bildgebrauch. In der frühen Neuzeit widersetzt sich Luther weniger den äußern Bildern und Skulpturen in den Kirchenräumen. Um so radikaler trifft seine Kritik die inneren Angstvorstellungen eines fordernd-strafenden Gottes, der den Menschen von seinen religiösen Leistungen her betrachtet; dagegen setzt er von neuem den Gott der bedingungslosen Gnade. Die Provokationen der Aufklärung führen auch in der christlichen Theologie zu einer neuen Vorsicht gegenüber unbedachten Gottesbildern. Schleiermacher zeigt, wie im frommen Selbstbewusstsein „das eigne Sein und das unendliche Sein Gottes Eines sein kann“ (Der christliche Glaube, 1830, § 32). Die Theologien Karl Barths, Rudolf Bultmanns, Paul Tillichs lassen sich als Versuche lesen, der neuzeitlichen Bildkritik am Gottesglauben überzeugend zu antworten. So wäre es eine Preisgabe theologischer Erkenntnis, wenn erst von mystischer Gottesbegegnung der entscheidende Durchbruch zu einem verantwortbaren Gottesbild erwartet würde. Trotzdem wird die Fragestellung künftig noch dringlicher werden: Welchen besonderen Beitrag kann die Mystik zur Rede und zum Bild von Gott hinzufügen?

Mystik vertritt das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes.

Ein wichtiger Beitrag ist vor allem, dass die Mystik das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes vertritt. Gott ist nie nur das väterlich-mütterliche Du, sondern begegnet auch in der Metaphorik von Licht und Feuer, von Quelle und Meer, von Grund und Abgrund. Das lässt sich sogar bis in Lieder verfolgen, die in unser Gesangbuch Eingang gefunden haben: „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben,/ Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder aller Wunder: ich senk mich in dich hinunter“ (Gerhard Tersteegen EG 165,5). Aber die variantenreiche nichtpersonale Bilder-Symbolik muss überstiegen werden. Schon „Dionysius“ konnte herausarbeiten, dass Gott über die direkten Bildaussagen hinaus treibt: auf eine “via negationis und „eminentiae“.

„Mystiker sind Tiefseetaucher des Bewusstseins“ (Küstenmacher in Gott 9.0). Gewiss sind solche Weiterführungen immer wieder auch Erkenntnisse der Theologie geworden, auch in den großen Entwürfen des 20.Jahrhunderts. Doch die Zeugen der Mystik haben ihre Erkenntnis mit dem Gewicht und der Leidenschaft eigener Erfahrung sozusagen beglaubigt.

Die mystische Erfahrung spricht von der Gegenwart, der puren Präsenz Gottes und von dem „Heute“ Christi. Der Zeitabstand zwischen dem Glauben heute und den biblischen Zeugnissen damals hat keine letzte Beunruhigung. „Es kommt ein Schiff geladen bis an sein höchsten Bord“. So heißt es in einem Lied in der Tradition Johannes Taulers (Evangelisches Gesangbuch 12). „Der garstige Graben“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der Lessing quälte, ist für das mystischen Bewusstsein immer überwindbar. Der wahre Gott muss nicht mühsam aus vergangenen Erzählungen verbürgt werden; er lässt sich immer im Heute, im Jetzt, im Alltäglichen erfahren. Der gegenwärtige Augenblick wird zum Tor für die Wirklichkeit Gottes. Zugleich hat diese Gegenwart einen „räumlichen“ Sinn. Gott lässt sich nicht erst in einer himmlischen Überwelt, sondern ganz nahe, in den gewöhnlichen Dingen, in nächster Nähe erfahren. So ermuntern die Mystiker zu einem Leben in der Gegenwart Gottes.

Sie sind es, die einerseits mit der radikalen Transzendenz der Gottheit ernst machen und an der ebenso radikalen Immanenz festhalten. Gott entzieht sich den höchsten Zuschreibungen und kann doch in nächster Nähe erspürt werden. Dort, wo alle Bilder versagen und die schönsten Vorstellungen zerbrechen, halten die Mystiker dem „unbekannten,“ dem „dunklen“, dem „verborgenen“ und „sich entziehenden“ Gott die Treue. In einer Liebe, die nichts für sich selber profitieren will, in einem “Umsonst”, das aber radikal dem “Umsonst” der Liebe Gottes Recht gibt. Dem entspricht auch der Primat des Gotteslobs, der Rühmung Christi, über alle erlittenen und auferlegten Kalamitäten hinweg. Die Karmelitin Therese von Lisieux (1873-1897) wiederholte bis zu ihrem frühen Sterben den Satz: „Ich bereue es nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu haben.“ Ja: In der Spannung von Liebe und Macht Gottes, zwischen Erbarmen und heiliger Souveränität halten sich die Mystiker an den Primat der Liebe und des Erbarmens. Das zeigt nicht nur die Dominanz einer riskanten Liebessprache, die sich vor den erotischen Bildern des Hohen Liedes nicht scheut. Gerade die Bereitschaft, Gott „in allen Dingen“ zu suchen, macht nicht nur die Freude, sondern auch das unverständliche Leiden zum Ort möglicher mystischer Erfahrung (Sölle).

Die Einheit mit Gott, mit Christus, die Mystiker ersehnen und erfahren, stellt das Gegenüber von menschlichem Ich und göttlichem Du in Frage. Sie widerspricht einer „Objektivierung“, einer Vergegenständlichung Gottes. Gott „in uns“ und „über uns“ gehören zueinander. Die menschliche Seele „in Gott“ glaubt sich in die göttliche Sphäre hineingezogen, erlebt sich als „gottfarben“ oder „gottförmig“. Ja, noch mehr: In den mystischen Texten begegnen Aussagen, die nach einer teilweisen Identifikation von Gott und Mensch klingen. Gott scheint sich von der Zuneigung des Menschen abhängig zu machen. Angelus Silesius formulierte: „Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben./ Werd ich zunichte, er muss vor Not den Geist aufgeben.“ Das muss nicht als blasphemisch abgewehrt werden. Man darf darin eine ungeheure Aufrichtung und Erhöhung des Menschen sehen.

Gefahren und Rückfragen

Wer dem mystischen Zeugnis offen begegnet, muss Fragen nicht unterdrücken. Immer wieder waren im Mittelalter mystische Bewegungen unter Verdacht gestellt. Meister Eckhart wurde verurteilt, Margarete Porete gar hingerichtet. Solche Widerstände haben in der Moderne die Mystik eher aufgewertet. Aber auch eine reformatorisch orientierte Theologie richtete an die mystische Gottesrede kritische Fragen. Auch dann, wenn eine Nähe zur Mystik ganz offenkundig bestand. Luther selber war von mystischen Anliegen, besonders in seiner Frühzeit, durchdrungen. Er war fasziniert von den Predigten Johannes Taulers; selbst das Bild von „Braut und Bräutigam“ konnte er in seinem Freiheitstraktat von 1520 positiv aufgreifen. Um so gewichtiger werden seine Anfragen an eine Mystik mit Zügen der „theologia gloriae“. Auch Schleiermacher ist die Mystik bei Novalis nahe vertraut. Trotzdem vertrat er eine radikale Neu-Reflexion des Glaubens. Karl Barth kannte eine liberale Erlebnisfrömmigkeit, die er kritisch vom Wort Gottes in Frage stellte, durchaus aus der Nähe.

Fragen können an alle Grundthesen mystischer Spiritualität gerichtet werden:

  • Kann wirklich auf dieser Erde die bleibende Gott-Vereinigung versprochen werden?
  • Genügt es, auf eigene Erfahrung zu bauen, statt im Glauben auch gegen die Erfahrung auszuharren?
  • Reicht der Rekurs auf die individuelle Innerlichkeit aus, ohne die geschichtlichen Vorgaben des Glaubens zu achten?
  • Bedeutet der Wandlungsweg einen eindeutigen Aufstieg, der die vorher durchlaufenen Stufen entbehrlich macht?
  • Kann das Wagnis einer riskanten Liebessprache den vernünftigen Diskurs und die argumentative Verantwortung ersetzen?

Solche Fragen verschärfen sich gerade bei den Beiträgen, in denen von der Mystik eine Erneuerung des Gottesbildes erwartet wird. Jörg Zink, der so hilfreich die Offenheit zu anderen mystischen Erfahrungen vertritt, betont gleichwohl: „Es ist Gott. Der Heilige, der Ferne, der unendlich Nahe, der nie mit mir zusammenfließt, auch wenn er ‚in mir wohnt’. Der Krug wird nie zu Wasser. Er kann mit Wasser gefüllt und von Wasser umgeben sein, er wird nie etwas anderes sein als der Krug“ (Die goldene Schnur, 2008,237). Kann die prinzipielle Überschreitung eines personalen Gottesbilds möglich sein, ohne Christus als „Angesicht“ des unsichtbaren Gottes, als Zentrum und Quelle aufzugeben? Und kann die Erfahrung des „Christus in uns“, der “Vereinigung mit Gott“ jemals den Unterschied von Schöpfer und Geschöpf, von Versöhner und Sünder preisgeben?

Neue Chancen mystischen Glaubens

Mit solchen nur angedeuteten Rückfragen ist die mystische Bewegung keineswegs beiseite geschoben. Im besten Sinn verstanden hilft sie, die überlieferten Gottesbilder zu entlasten, zu läutern und neu zu entdecken. Das sei in vier Thesen knapp zur Diskussion gestellt.

Mystik bewahrt davor, sich in einen Aktivismus des Glaubens zu verlieren.

Erst aus innerer Ruhe und einer gründlichen Gott-Verbundenheit heraus kann christliches Handeln der Selbstüberforderung und dem Leerlauf entgehen- Ohne dem Auftrag zur Arbeit an der politischen Befreiung abzuschwören, nimmt D. Sölle „Mystik“ zum Widerstand hinzu, ja deutet „Mystik“ als Kraft des gebotenen Widerstands. Damit bleibt die Mystik auch sehr nahe bei dem, was die Reformation, gegen alle Leistungsgerechtigkeit, neu ans Licht brachte: die Rechtfertigung aus Gnade. Mystik ermutigt „Gelassenheit“ und ein „Gebet der Ruhe“. So hat es eine tiefe Bedeutung, dass das ostkirchliche „Herzensgebet“ im Westen so weite Verbreitung findet.

Mystik kann aber auch davor schützen, dass die notwendigen Klärungen im Gottesbild an der intellektuellen Oberfläche bleiben.

„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott“ (Meister Eckart, Reden der Unterweisung, Quint S. 60). Es ist eine der anregendsten Seiten in dem Buch Gott 9.0, dass es die Stufen gewandelter Gottesbilder in Kontakt hält mit mystischen Erfahrungen und Zuständen. Neben die neun Stufen solcher Gottesbilder werden vier Zustände der Selbsterfahrung in „Achtsamkeit“, „Meditation“, „Kontemplation“ und „Verklärung“ gestellt und das Ziel des Buches wird auf die Formel gebracht: „Religiös aufgeklärt dank Stufen, spirituell erfahren dank Zuständen“. Die geistige, die theologische Debatte um tragfähige Gottesbilder bleibt unentbehrlich; die Mystik gibt ihnen das Gewicht der eigenen Erfahrung. Dabei bleibt der Mystik mehr, als Küstenmacher u.a. zeigen, bewusst, dass frühe Stufen des Gottesbildes nicht einfach überholbar sind. Das Grundvertrauen und die Allverbundenheit des kleinen Kindes bleiben in gewandelter Form auch für den kritischen erwachsenen Gottesbezug wesentlich. Darauf deutet ein mehrfach bezeugtes Wort Jesu:„Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Markus 10,15). Ein erwachsener Glaube hat es nicht nötig, die Geborgenheit im „Grund des Lebens“ zu verleugnen.

Mystik erinnert an die dem Menschen geschenkte Hoheit und Würde.

Was kann größer sein, als mit dem vereinigt sein, der Quelle und Grund alles Lebens ist? Was führt höher hinauf als zu vertrauen: „Christus lebt in mir“? Was alle als Ziel des Glaubens erhoffen und ersehnen, wird Mystikerinnen und Mystikern schon auf dem Weg geschenkt: die Gegenwart der „Verklärung“, der innersten Ruhe und Stille. Freilich nicht ohne schmerzhafte Wandlungs- und Umkehrprozesse, die gerade in der besonders glaubhaften Mystik nicht aufhören. Insofern gibt authentische Mystik nichts anderes als was F. Steffensky „Schwarzbrot Spiritualität“ nennt. Johannes Tauber bleibt denen nah, die sich mit den Widrigkeiten auf dem Weg plagen und immer wieder in „getrenge“ hineingeraten. Luther setzt bei seinen Weisen des Bibelumgangs nach „meditatio“ und „oratio“, gegen alle übliche Tradition, an die höchste Stelle nicht „contemplatio“, sondern „tentatio“, die Anfechtung, die Bedrängnis. Mystik hält es aus, mit dem „unbegreiflichen“, dem „dunklen“ Gott zu leben.

Mystik ist eine Schule der Weitherzigkeit, der religiösen Toleranz.

Hier war bisher vor allem von christlichen Traditionen der Mystik die Rede. Hier sind Schätze zu entdecken, die immer noch weithin nicht bekannt sind. Sie können im 21.Jahrhundert neu gehoben werden. Aber wer die mystische Dynamik im christlichen Glauben kennen lernt, wird auch frei und unvoreingenommen den mystischen Bewegungen in andern Religionen begegnen. Er wird Ähnlichkeiten entdecken und nicht voreilig abstreiten, dass der Gott Israels derselbe ist, den Christen als Vater Jesu Christi bekennen. Gerade den östlichen Religionen gegenüber gilt es aber auch, behutsam zu sein mit der Behauptung einer identischen Erfahrung. Der in interreligiöser Spiritualität so erfahrene Benediktiner Emmanuel Jungclaussen fasst zusammen: „Ich glaube, dass wir zu einem überraschend großen Kernbestand an Gemeinsamkeiten vordringen können.“ Er meint aber auch: „die Besonderheit des Christentums darf dabei nicht auf der Strecke bleiben…wo keine Reibung entsteht, kann auch kein Funke überspringen. Und das herausstehende Merkmal des Christentums ist für mich die Gestalt Jesu Christi“ (Der Strom des Lebens, 2010, 217). Den christlichen Glauben bis zur Inhaltslosigkeit entwerten, wird keine Vision für die Zukunft sein. Aber ein Weg, der uns lehrt, Gott „in allen Dingen“ zu suchen, in der Gestalt Jesu Christi als Liebe zu finden, wird auch imstande sein, Ihn in andern Religionen zu suchen und für Ihn offen zu werden. Der interreligiöse Dialog braucht den Austausch der Spiritualität, der mystischen Wege.

Mystik ist keine Lehre, sondern Praxis und Zustand. Wahrscheinlich auch deshalb gelangen nur wenige Gläubige in die Nähe mystischen Erlebens, weil die Methoden der Kontemplation und Meditation schwer zu erlernen und zu praktizieren sind und viel Zeit kosten. Sie sind aber keineswegs auf Klöster und Räucherstäbchen beschränkt. Diese Glaubensform steht nicht in der Gefahr, zu einer exklusiven Esoterik zu werden. Vielmehr gibt es zahlreiche Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung, die auch ohne einschlägige Begabung ausprobiert werden können. Und die auch der sonstigen Lebensgestaltung neue Impulse geben können. Sie dienen (nach Berichten praktizierender Mystiker) der Selbstwahrnehmung und Gotteserfahrung und lassen höhere Wahrheit unmittelbar erfahren. Mystische Praxis vermittelt Bewusstseinserweiterung und Ahnung höherer Wirklichkeit, die über die Grenzen des Denkens hinausreicht. Sie ergänzt das rationale Bewusstsein und die traditionelle Gläubigkeit. Genannt werden häufig Methoden der „Meditation“, der „Entspannung“, „Verwunderung und Staunen“, „innere Bilder erfahren“, „den inneren Spiegel reinigen“, die „Bilderlose Schau“, „Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren“, „Das Ich verschwindet“, „Gottes Auge ist mein Auge“, „Einssein in Christus“.

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